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ESC 1986: Du weisst, ich liebe das Leben

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Logo des Eurovision Song Contest 1986
Das Jahr des weißen Rauschens

Dass man trotz Eurovisionsteilnahme eine steile Karriere hinlegen kann, beweist Åse Kleveland. 1966 trat die norwegische Liedermacherin mit dem geklampften ‘Nichts Neues unter der Sonne’ beim Wettbewerb an und belegte den dritten Platz. Danach distanzierte sie sich zwar zunächst vom Grand Prix, was sie aber nicht davon abhielt, zwanzig Jahre später als gestrenge Moderatorin mit dem Auftreten und der Frisur einer Domina im malerischen Bergen durch einen Abend musikalischer Abgründe zu führen. So präpariert, übernahm sie nur wenige Jahre darauf das Amt der Kultusministerin Norwegens. Meinen Respekt!

Das kleine Saarland ist für drei Arten heutzutage nicht mehr all zu stark nachgefragter Bodenschätze bekannt: Kohle, Vorsitzende sozialistischer Parteien und Schlagersänger. Nach Cindy & Bert (1974) und Nicole (1982) kämpfte diesmal Ingrid Peters für Deutschland um die Grand-Prix-Krone. Doch sie hätte bei der Titelauswahl besser Acht gegeben: wie schon 1975 wollten die europäischen Jurys auch diesmal über keine deutsche “Brücke gehn”. Ein enttäuschender achter Platz, obgleich der kein kitschiges Klischee auslassende Gutmenschenbeitrag zu den beiden einzigen nennenswerten Liedern dieses Jahrgangs gehört. Allerdings wirkte Ingrid bei ihrem Auftritt ein wenig nervöser als noch bei der heimischen Vorentscheidung. Da war der Deutschen doch die Sorge über das nur wenige Tage vor dem Contest im ukrainischen Tschernobyl havarierte Atomkraftwerk anzumerken, dessen hoch radioaktiver Fallout während der Probenwoche gerade auch über Norwegen niederging.


Das nenne ich mal Schulterpolster! Sandra Kim

Das zweite nennenswerte Lied des Abends gewann denn auch. Für Belgien bekannte die erst dreizehnjährige Sandra Kim mit kreischiger Kieksstimme: “J’aime le Vie”. Gut, heißt eigentlich la Vie”, doch angesichts ihrer jugendlichen Unschuld ließen selbst die bei so etwas sonst extrem empfindlichen Franzosen fünfe gerade sein. Zumal Sandra ihren Auftritt mit einem Handzeichen einläutete, das in vielen Gegenden der Welt als freundliche Aufforderung zur Beiwohnung missinterpretiert werden könnte. Dazu tänzelte sie im pastellweißen Miami-Vice-Look, das zierliche Köpfchen eingequetscht zwischen den bedrohlich aufwattierten Schulterpolstern, derartig aufgezogen über die Bühne, als habe ihre Mutter ihr am Morgen Speed anstelle von Zucker über die Cornflakes gestreut. Das war so mitreißend flott wie nichtig, ragte aber aus dem lustlosen Einheitsbrei heraus, der das Musikmenü bestimmte.


Ketil und die erste echte Dragqueen beim Grand Prix!

Dazu zählte Gekröse wie die aus Backingsängerinnen zusammengestellte französische Behelfsband Cocktail Chic (alleine dieser Name sollte der EBU Anlass genug zu einem lebenslangen Ausschluss der Froschfresser sein) und ihr schleimiges ‘Européennes’: man konnte sich zunehmend des Eindrucks nicht mehr erwehren, dass für die meisten Länder die Teilnahme am Grand Prix nur noch eine lästige Pflichtübung darstellte. Das beste Beispiel hierfür lieferte das Gastgeberland, dessen tuntig herumhoppelnder Vertreter Ketil Stokkan, alles andere als ein ‘Romeo’, wohl vor allem einen erneuten Sieg verhindern sollte. Nicht zuletzt dank der immer wieder präsentierten schwulen Variante des Hitlergrußes gelang es ihm und seinen beiden operettenhaft kostümierten Tänzern (ja, auch bei Julia handelte es sich um einen Mann!) spielend. Selbst die Kroatin Doris Dragović, die 1999 Jerusalem mit dem fantastischen ‘Marija Magdalena’ rocken sollte, blieb bei ihrem ersten Versuch mit ‘Zeljo moja’ brav und farblos.


Doch, es gibt noch Steigerungen zum Vokuhila!

Einen wirklich abschreckenden Einstieg gab Island: Eiríkur Hauksson (IS 2007), ein Drittel von – Achtung, Wortspielweltmeisterschaften: – Icy, hatte schon damals eine Fresse zum Kindererschrecken. Sowie ein furchtbares, sterbenslangweiliges Nichtlied. Dazu trug er den schlimmsten Jon-Bon-Jovi-Gedächtnis-Haarhelm der Menschheitsgeschichte. Haarsträubend auftoupierte Haare in Kombination mit gigantischen Schulterpolstern waren auch beim irischen Love Bug (wer denkt sich solche Namen aus?) zu beobachten, nicht jedoch bei Finnlands Kari Kuivalainen. In dessen – ähm, wie soll man das nur nennen: Frisur?, einem Prunkstück aus der Kollektion “Geschmacksverbrechen der Achtzigerjahre”, war augenscheinlich eine Schermaschine Amok gelaufen. Zudem schnitt Kari beim Finalton seiner gedämpft dramatischen Leidensballade eine Grimasse, als sei ihm gerade einer abgegangen. ‘Päivä kahden ihmisen’ kam so nur auf den fünfzehnten Rang.


Kann mal jemand den Saxofonisten töten?

Als auffälligste Trägerin der Haarhelm-Schulterpolster-Kombi tat sich die Schweizerin Daniela Simmons hervor. Ihre sehr klassische, zweitplatzierte Grand-Prix-Ballade stammte vom selben Songschreiberteam, welches 1988 eine gewisse Frankokanadierin mit einem Siegertitel versorgen sollte. Tja, ‘Pas pour moi’, wie Frau Simmons selbst resigniert sang. Aber sie verfügte nun mal weder über die Stimme noch die Strahlkraft einer Céline Dion. Und gegen ‘Ne partez pas sans moi’ war ihr erzkonservatives Liedlein, in dem sie sich als frigide ewige Jungfer positionierte und jeglicher Anmache, selbst in der Oper, eine schroffe Absage erteilte, auch nur öder Kackmist. Im Vergleich zu ‘J’aime la Vie’, das wenigstens mit jugendlich überbordendem Optimismus punkten konnte, übrigens auch. Dementsprechend erreichte Frau Kim wenigstens noch Platz 50 in den Verkaufscharts. Frau Simmons, die es als besonders erniedrigend empfand, “gegen ein Kind” verloren zu haben, wie sie der Presse anvertraute, ging dagegen auch kommerziell völlig leer aus. Zu Recht. Ihr sei eine Anstaltspackung ‘Feuer’ (DE 1978) empfohlen!


Ich möchte das nicht: Frau Simmons, die größte Zicke der Schweiz

Lasse Holm, augenscheinlich der verheimlichte schwedische Bruder von Michael Holm (DVE 1973), versuchte während des Vortrags seines Titels (irgendwas mit ‘Kärlek’) mehrfach, seine Duettpartnerin Monica Törnell im Schwitzkasten zu erdrosseln. Ob aus Verärgerung oder Langeweile, ist unbekannt. Es war jedenfalls unschön mitanzusehen. Österreich ging, wie jedes Mal, mit seinem Versuch eines Anspruchsschlagers unter. Obgleich (oder weil) Peter Cornelius (jawohl, der von ‘Du entschuldige I kenn’ Di’) für den Text verantwortlich zeichnete. Was er sich dabei nur dachte? Die Zeit sei “müde, Dich zu suchen, und bleibt stehn” krisch eine leicht wirre Timna Brauer (welcher Sadist nennt sein Kind denn so?), die den Eindruck vermittelte, als füttere sie hauptberuflich Tauben im Park. Oder fünfzig Katzen in ihrer Sozialwohnung durch. Und richtig: auch für den Zuschauer blieb während ihrer drei Minuten die Zeit stehen, dehnten sich Sekunden zu Äonen.


Die Haarschüttelbeuge: eine österreichische Erfindung!

Dieses Müdigkeitsgefühl verstärkte sich durch die optische Homogenität der einem Eisberg nachempfundenen Bühne und der darauf hauptsächlich in weißer Garderobe auftretenden Künstler in Richtung Koma. Am Ende des langen Abends blieb so nicht viel mehr als ein weißes Rauschen auf den Sehnerven Europas zurück. Der Fairness halber soll gesagt sein, dass 1986 auch auf dem regulären Popmarkt die große Langeweile herrschte, den nach dem Ende der Disco-Ära, des Punk und des New Wave und Jahre vor dem Durchbruch von Hip Hop und Techno orientierungsloses, glatt produziertes Synthesizergeblubber prägte, in hörnervenzerfetzendem Verbund mit schleimigen Saxophonsoli sowie grauenerregendem Hair Rock. Dennoch: diese Veranstaltung kann getrost als Bankrotterklärung des Europop gelten.

Eurovision Song Contest 1986

Eurovision Song Contest 1986. Samstag, 3. Mai 1986, aus der Grieghalle in Bergen, Norwegen. 20 Teilnehmer, Moderation: Åse Kleveland.
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Land
Interpret
Titel
Punkte
Platz
01LUSherisse LaurenceL'Amour de ma Vie11703
02YUDoris DragovićŽeljo moja04911
03FRCocktail ChicEuropéennes01317
04NOKetil StokkanRomeo04412
05UKRyderRunner in the Night07207
06ISIcyGleðibankinn01916
07NLFrizzle SizzleAlles heeft Ritme04013
08TRKlips + OnlarHalley05309
09ESCadillacValentino05110
10CHDaniela SimmonsPas pour moi14002
11ILMoti Giladi + Sarai TzurielYavoh yom00719
12IELove BugYou can count on me09604
13BESandra KimJ'aime la Vie17601
14DEIngrid PetersÜber die Brücke gehn06208
15CYElpida KaraliTora zo00420
16ATTimna BrauerDie Zeit ist einsam01218
17SELasse Holm + Monica TörnellÄr det de här du kallar Kärlek?07805
18DKTraxDu er fuld af Løgn07706
19FIKari KuivalainenPäivä kahden ihmisen 02215
20PTDoraNão sejas mau para mim02814

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